Während dieser Weg bei Pariah's Child noch etwas holprig wirkte, schafft es das neue Album The Ninth Hour endlich lückenlos, das gute alte Sonata-Feeling wieder aufleben zu lassen und zeigt ganz klar, dass Sonata Arctica diesen Stil noch immer beherrschen, wie keine andere Band es je so charakteristisch könnte. The Ninth Hour ist dennoch keine müde Kopie – ganz im Gegenteil: Dieses Album klingt wie ein sehr ideenreicher DIREKTER Nachfolger zu Reckoning Night. Ich persönlich liebe Unia und halte es für ein absolutes Meisterwerk, ABER: Hätten Sonata Arctica The Ninth Hour 2006 oder 2007 veröffentlicht, hätte sich nie ein Fan der alten Alben über die Entwicklung der Band beschwert. So wie Silence die logische Weiterentwicklung von Ecliptica war, so ist The Ninth Hour die logische Weiterentwicklung von Reckoning Night und Winterheart's Guild. Kurz gesagt: Voll und ganz Sonata Arctica, wie wir sie kennen und lieben.
Klar, "Closer to an Animal" ist auf jeden Fall ein sehr gewagter und unkonventioneller Opener für ein Sonata-Album, denn so erzählerisch, nachdenklich und ruhig sind Eröffnungs-Songs eigentlich nicht, aber nach mehrmaligem Hören bleiben die zwei hauptsächlichen Melodylines des Songs im Kopf hängen – und besonders in späteren Durchläufen hat er seinen ganz speziellen Reiz. Auch der zweite Song, der schon vorab veröffentlicht wurde, "Life", entfaltet noch nicht so ganz die mitreissende Energie, die man sich von einem Sonata Arctica-Song eigentlich wünschen würde. Doch Tonys sehr emotionaler Gesang und der (wortwörtliche) "Lalala"-Refrain schaffen es nach einer kurzen Eingewöhnungsphase, eine absolute Wohlfühl-Stimmung zu verbreiten. Tonys Vorhaben, endlich mal einen hundertprozentig positiven Song über das Leben zu schreiben, ist definitiv geglückt.
Doch ab Song Nummer 3 ist es endlich wieder da: Das gute alte Sonata-Feeling, das vielen von uns sicherlich fehlte. "Fairytale" erinnert nach seinem kurzem Keyboard-Intro direkt an "Silver Tongue" von Winterheart's Guild. Und alles ist da, was man sich von einem Sonata Arctica-Song wünschen kann: Die einzigartige Melodie, der Mitsing-Refrain, der sarkastisch-enttarnende Unterton – und lyrische Perlen wie "vote 'yes' for the global warming", "hip hip hooray" oder "one ring to rule them all, who's paying, where's Waldo?" werfen den Zuhörer glatt zurück in Tricky-Beans-Zeiten. Glücklicherweise wirkt der Song dennoch nicht albern, sondern wendet die Kitsch-Gefahr gekonnt ab – mit einer leicht melancholischen Bridge und späteren, etwas abgedrehteren Passagen in den Strophen, die ein wenig an Unia erinnern. Diese Passagen werden dann aber auch wieder vom Ohrwurm-Refrain abgelöst, sodass man nie Gefahr läuft, auszuufern.
Fehlen euch schon länger die wunderschönen Power-Balladen, die Sonata Arctica damals so ausgezeichnet haben? Einzigartige Stücke wie "Tallulah", "Letter to Dana" oder "Last Drop Falls"? Und liebt ihr die Piano-Passagen in alten Sonata-Songs? Dann wird euch "We Are What We Are" all das geben, das in den letzten Jahren einfach ein bißchen gefehlt hat. Das eineinhalb-minütige Intro aus melancholischen Flöten erinnert glatt ein bißchen an Nightwish, bevor Tony sanft zu singen beginnt. Thematisch steht allerdings keine Herzensdame im Mittelpunkt, sondern das Konzept, welches The Ninth Hour wie ein roter Faden durchzieht: Die Tatsache, dass wir Menschen diesen Planeten, unser einziges Zuhause, immer mehr zerstören. Der Song ist zwar durch und durch eine Sonata-typische Ballade, getragen von sehr dezenter Percussion, verziert von Piano-Akzenten und mit einem eingängigen Refrain, hat aber eine ganz eigene Charakteristik und spezielle Atmosphäre, die Elemente aus den oben genannten Balladen und "They Follow", dem Bonustrack von Unia, beinhaltet.
Und kaum hat man die Freude über diese Rückkehr zu alten Tugenden ein wenig verarbeitet, kommt "Till Death's Done Us Apart" daher und zeigt mit dem düster-beschwörenden, leicht verrückten und hin und wieder agressiven Gesang Tonys, womit wir es hier zu tun haben: Hier wird die bekannte Stalker-Story aus "Caleb", "Juliet" und "Don't Say a Word" fortgesetzt. Beginnt der Song noch sehr erzählerisch, so entwickelt er sich schnell zu einem Geschenk an Fans von "Wildfire", "Ain't Your Fairytale" oder den schnelleren Passagen aus "White Pearl, Black Oceans". Und zu keiner Sekunde wirkt dieser Stil auch nur ansatzweise aufgesetzt. Ganz im Gegenteil: Tony und die Jungs sind so sehr in ihrem Element, dass es eine schiere Freude ist! Auch hier hat man einige dynamischere Passagen, die Fans von Unia und The Days of Grays sehr begrüßen werden, doch die eingängige Grund-Melodie und der sehr starke Ohrwurm-Refrain halten den Song zu jeder Zeit in einer "Wildfire"-ähnlichen Struktur. Ein mehr als würdiger Eintrag in Calebs Stalker-Tagebuch.
"Among the Shooting Stars" ist dagegen schon etwas sehr eigenes. Dieser Wolf-Song vereint sehr ruhige, Piano-verzierte Momente mit der Atmosphäre der ruhigeren Unia- und Days of Grays-Passagen (zum Beispiel aus "Juliet", "For the Sake of Revenge" oder "The Worlds Forgotten, the Words Forbidden") in einem sehr symphonischen und opulenten Gewand. Immer wieder gibt es Momente, in denen die Musik pausiert und nur Tonys Stimme zu hören ist. Besonders im (an "Tallulah" UND "Broken" erinnernden) Refrain schafft es Tony, das "Leiden" im Wort "Leidenschaft" perfekt darzustellen. Wenn es EINEN Song gibt, der sowohl Fans der "alten Sonata" als auch Fans der Unia/Days of Grays-Phase gleichermaßen zu erfreuen, dann ist es eindeutig diese Ballade. "Among the Shooting Stars" wird uns Sonata-Fans sicherlich noch Jahre begleiten.
Viele haben daran gezweifelt, dass Sonata diese typischen High-Speed-Melodic-Power-Metal-Songs à la "Misplaced", "Abandoned, Pleased, Brainwashed, Exploited" oder "Victoria's Secret" drauf haben. Diese Zweifler werden mit "Rise a Night" mit Leichtigkeit eines Besseren belehrt. Hier haben wir einen unaufhörlichen Keyboard-Teppich, kombiniert mit frenetischem Drumming und tollen Gitarren/Keyboard-Soli, die stark an das Silence-Album erinnern. Was zuletzt in "Running Lights" (von Pariah's Child) und dem Days of Grays-Bonustrack "Nothing More" angedeutet wurde, wird hier konsequent zur Perfektion gebracht.
"Fly, Navigate, Communicate" ist ein Song, bei dem ich Schwierigkeiten habe, in Worte zu fassen, wie sehr er mich als Sonata-Fan begeistert. Er ist eine Kombination aus allem, das man in den letzten 16 Jahren an Sonata Arctica geliebt hat. So erinnert der Song im Intro an die typische Silence-Atmosphäre (zum Beispiel aus "Sing in Silence" oder dem gesprochenen Intro "Of Silence"), geht dann in eine melancholisch-leidenschaftliche Grund-Stimmung aus Songs wie "The Boy Who Wanted to Be a Real Puppet" über und steigert sich dann in den genialen Refrain, der mit jedem der drei Worte "Fly", "Navigate" und "Communicate" an Intensität des Gesangs und an Geschwindigkeit zunimmt. Und gerade wenn man gedacht hat, man hätte das ruhige Schema des Songs durchschaut, wird das Gaspedal im letzten Drittel in einem göttlichen Keyboard/Gitarren-Solo zu Tonys triumphalem Schrei durchgetreten. Ein absoluter Euphorie-Schub, der Sonata-Fans beinah fassungslos zurücklässt.
So wie auch das Silence-Album gleich mehrere ergreifende Halbballaden hatte, hat man auf The Ninth Hour ebenfalls, neben "We Are What We Are", einen weiteren Anwärter auf den Balladen-Thron: "Candle Lawns" ist das, was herauskommen würde, wenn man "Shamandalie" mit "Tallulah" kreuzen, und das Endergebnis noch etwas ausschmücken würde. Wenn bislang noch Zweifel daran bestanden, dass wir mit dem neuen Album tatsächlich ein "gutes altes Sonata-Album" bekommen würden, dann sind diese Zweifel nun vollends verschwunden. Man fühlt sich regelrecht in die alte Silence-Zeit zurückversetzt – einfach schön.
Als The Ninth Hour angekündigt wurde, waren die meisten Fans gleichzeitig sehr aufgeregt und höchst kritisch, weil damit ein Nachfolger zu "White Pearl, Black Oceans" angekündigt wurde. Viele Fans mochten die beiden Nachfolge-Songs zu "Wildfire", welche auf dem Stones Grow Her Name-Album enthalten waren, nicht sonderlich. Doch "White Pearl, Black Oceans - Part II: By the Grace of the Ocean" macht glücklicherweise alles richtig. Der Song hat eine völlig eigene Melodie, ist also nie eine Kopie von Teil 1, ist aber durchzogen von Rückblick-Momenten, in denen der Refrain aus Teil 1 (entweder als Piano-Melodie oder mit Hintergrund-Streichern) wieder aufgegriffen wird. Ab der Hälfte wird die Ballade zu einem rhythmischen Midtempo-Song und steigert sich dann in Vollgas-Gitarren/Keyboard-Passagen, nur um später wieder zur ruhigen Atmosphäre zurückzukehren. Sicherlich braucht man ein bißchen Zeit, um den gesamten 10-Minuten-Song zu durchschauen (und es gibt wirklich EINIGES zu entdecken), aber zu keiner Zeit wirkt der Song überladen oder kompliziert. Eher haben wir es musikalisch mit einer Mischung aus dem ersten Teil von "White Pearl, Black Oceans" und dem Unia-Bonustrack "They Follow" zu tun – vermischt mit der Magie aus den ruhigsten Erzähl-Passagen von "Deathaura" von The Days of Grays. Immer wieder präsentiert Tony eine Theatralik im Gesang, die man höchstens in "Larger Than Life" auf Pariah's Child schon einmal gehört hat – aber in purer Melancholie – während die Erzählstruktur genau das ist, was man sich von einem Nachfolger wünscht. Und wenn der Song vorbei ist, hat man das Gefühl, etwas Großes erlebt zu haben.
Der letzte reguläre Track des Albums heißt "On the Faultline (Closure to an Animal)" und ist eine sehr ruhige Variante des Openers "Closer to an Animal" mit abgeändertem Text. Von melancholischem Piano getragen, wirkt der Song in dieser Version wie eine sehr reflektierende Ballade – und das nicht ohne Grund: Ist der Song doch der Rückblick auf das eigene Leben. So wird der Kreis des Albums perfekt geschlossen. Leute, die "Closer to an Animal" vielleicht nicht so mochten, werden diese Variante sicherlich dennoch mögen. Als tragische Ballade funktioniert das Stück einfach perfekt.
Dazu gibt es noch den Bonus-Track "Run to You", welcher eine Cover-Version des berühmten Bryan Adams-Songs von 1984 ist. Und wer den Bonus-Cover-Track auf Ecliptica Revisited von Genesis' "I Can't Dance" gehört hat, weiß genau, was er hier zu erwarten hat: Tony, der einfach nur Spaß hat, den Rock-Klassiker mit Augenzwinkern und lässiger Attitüde zum Besten zu geben. Wer jedoch mit 80er-Covers nichts anfangen kann, der wird auch von Sonatas Variante von "Run to You" nicht überzeugt werden. Ich persönlich finde die Version ganz witzig – sie macht einfach Spaß.
Alles in allem ist The Ninth Hour genau das, worauf viele Sonata-Fans lange warten mussten. Sonata Arctica haben ihre Ankündigung, zu alten Tugenden zurückzukehren, in einem so vollständigen Maße wahr gemacht, dass es nun ENDLICH keine zwiegespaltene Diskussion über den Stil der Band mehr geben wird. The Ninth Hour ist, wie schon zuvor gesagt, einfach ein wunderschönes Geschenk an die Fans. Und das glücklicherweise nicht irgendwie aufgesetzt, künstlich oder "fabriziert", sondern tatsächlich mit Leidenschaft, Spielfreude und Hingabe. Der Anfang des Albums mag noch ein wenig holprig sein, doch spätestens nach den beiden Vorab-Songs (die man jedoch ebenfalls recht schnell ins Herz schließen kann), steht eindeutig fest: DIESES Album wird definitiv eine laaaaange lange Zeit im CD-Player rotieren. Es gibt so viel zu entdecken, so viel zu genießen und so viel euphorisierende Sonata-Energie, dass sich Fans weltweit endlich wieder einig sein können:
"It truly makes the most beautiful music."
Danke, Sonata Arctica.